Vorwort

Dieses Buch ist kein medizinisches Nachschlagewerk, es ist meine ganz persönliche
Geschichte, mein Leben, mit all seinen Widrigkeiten und Missverständnissen.
Alles ist so aufgeschrieben, wie ich es zum Zeitpunkt des Erlebens verstanden und empfunden habe.
Ich hätte die medizinischen Details von Ärzten kontrollieren lassen können,
aber dann wäre es nicht mehr authentisch.

Wie ich darauf komme, dass ausgerechnet mein Leben interessant sein könnte?
Das ist es nicht. Es ist so unbewegend bewegend wie jedes andere Leben,
mit dem einen Unterschied, dass ich es aufgeschrieben habe.
Anfangs habe ich meinem Sohn aus meinem Leben erzählt, da ich nicht
weiß, wie alt ich werde. Keiner kann sagen, wann seine Zeit vorbei ist,
aber als chronisch Kranke ist man gezwungen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen
und ich möchte, dass mein Sohn mich und mein Leben kennenlernt, auch dann,
wenn ich es ihm nicht mehr selber erzählen kann.
Ich bin nun schon seit zweiundzwanzig Jahren nierenkrank, habe vieles erlebt
und durchlebt und einiges daraus gemacht.
Als ich noch jünger war, schien es mir selbstverständlich, heute weiß ich,
ich kann stolz auf mich und meine Leistungen sein und ich bin es auch.
Ich möchte denen, die in meiner Situation, oder einer ähnlichen sind,
zeigen, dass sie nicht allein sind und dass jedes Leben ein glückliches
sein kann — wenn man nur will und sich nicht unterkriegen lässt.

Die Idee zur Veröffentlichung kam mir, als ich eines Tages auf meine U-Bahn wartete.
Ich saß auf einer Bank, neben mir eine junge Frau. Sie flirtete ein wenig mit meinem
damals knapp einjährigen Sohn. Dann sah sie mich traurig an und sagte, sie hätte auch
gerne ein Kind gehabt, aber da sie an Multipler Sklerose erkrankt sei, wäre das
nicht möglich. Zumindest rieten ihr die Ärzte davon ab.
Daraufhin erzählte ich ihr von einer entfernten Bekannten, die an der gleichen
Krankheit leidet und ein gesundes Mädchen geboren hat.
Auch meine Geschichte riss ich kurz an, erzählte über meine Krankheit, was die
Ärzteschaft zu meinem Kinderwunsch gesagt hatte und deutete auf meinen Sohn.
Als die Frau in ihre Bahn stieg, lächelte sie und ihre Augen strahlten Hoffnung aus.
Natürlich konnte ich der jungen Frau nicht versprechen, dass es auch ihr möglich
sein würde, ein Kind zu bekommen, aber ich konnte ihr Anregungen geben, wo sie
sich Infos holen kann, ohne mit Ärzten zu sprechen, die sie persönlich kennen,
denn sie neigen dazu, keine klaren Fakten auf den Tisch zu legen, sondern
Informationen so gezielt anzubringen, dass man sich dem Patientendasein unterwirft.
Ärzte handeln zum Wohle des Patienten, der Mensch, der dahinter steht, mit all
seinen Wünschen und Bedürfnissen, wird sehr oft vergessen.
Natürlich ist der gerade Weg der sicherste. Er ist einfach und ziemlich risikolos,
aber ob es auch der glücklichere Weg ist, sei dahingestellt.

Dieses Buch hat nur eine einzige Aussage:

Es lohnt sich, für seine Träume zu kämpfen.
Kämpfen Sie!



Ich war 16, als ich völlig erledigt, mit kaum messbarem Blutdruck von der Dialyse kam,
mich auf die letzten Stufen vor unserer Wohnungstür fallen lies und heulte.
Meine Mutter kam besorgt aus der Wohnung und wollte wissen, was denn los wäre.
"Heute haben sie mir gesagt, dass ich niemals Kinder bekommen kann!"
Meine Mutter reagierte allerdings nicht sonderlich verständnisvoll:
"Was machst du dir darüber heute schon Sorgen? Du bist noch so jung, die Zeit
arbeitet für dich. In deinem Alter sollte das noch kein Thema sein."
Aber es war und blieb ein Thema; über weitere 16 lange Jahre.

Wie jedes Leben, begann auch meines, mit meiner Geburt. Einen Tag nach dem
errechneten Termin, abends gegen 23 Uhr, traf meine Mutter mit Wehen im Krankenhaus ein.
Es befand sich nur eine Schwester auf der Station und die schien wenig motiviert, einen
Arzt zu Hilfe zu holen. Stattdessen, verabreichte sie ihr Valium. Meine Mutter schlief
ein, die Wehen verschwanden. Der nächste Morgen war der Tag meiner Geburt. Meine Mutter
erwachte, weil drei Schwestern ihre Ellenbogen in ihren Bauch stemmten, um mich,
die inzwischen kaum noch eine Herztätigkeit zeigte, aus ihrem Leib zu quetschen.
Sie quetschten auch eine meiner Nieren und keiner hat es bemerkt.

Im Arztbericht, den meine Mutter sich Jahrzehnte später aushändigen lies, steht,
dass meine Geburt eine komplikationslose Spontangeburt war.
Bei welcher Geburt waren diese Leute?
Ich blieb sieben Wochen lang im Krankenhaus, lag die meiste Zeit im Inkubator,
hatte Gehirnkrämpfe und bewegte mich nicht. Nach Meinung der Ärzte würde ich
sterben oder wäre stark geistig behindert.
Ich lebe. - Den Rest sollen andere entscheiden.

In den folgenden 12 Jahren war ich oft krank, machte beinahe jede Kinderkrankheit
durch, war blass und immer sehr schnell müde. Einkaufsbummel durch die Stadt waren
mir verhasst; ich räkelte mich auf dem Boden, versteckte mich unter Kleiderständern
oder in Stoffregalen, um die müden Beine auszuruhen.
In der Schule war ich langsam und ließ mich schnell ablenken. Ich litt unter
Schlafstörungen, lag nächtelang wach und kam morgens schlecht aus dem Bett.
Der Sportunterricht war besonders in der 3. und 4. Klasse mein größter Albtraum.
Der Sportlehrer, dem auch aufgefallen war, dass ich schnell ermüdete, versuchte
mich durch Beschimpfungen wie "du faule Sau" mit nur mäßigem Erfolg zu motivieren.
Trotz häufiger Arztbesuche und regelmäßiger Blutkontrollen merkte niemand, dass
eine meiner Nieren offenbar funktionslos und die verbleibende oft entzündet war.
Jede Entzündung hinterließ eine Narbe, jede Narbe ließ die Niere schrumpfen.

Im Sommer 1982 stand ein weiterer Arzttermin mit Blutentnahme an.
Zu der Zeit kratzte ich mich ständig und hatte nicht selten offene Hautstellen.
Ich saß also im Labor und schlug meinen linken Ärmel auf, um der Ärztin meine
Ellenbeuge zur Blutentnahme zu präsentieren, da entdeckte meine Mutter auf der
Innenseite meines Unterarmes kleine rote Pöckchen. Sie wurde sauer und zischte
mir zu: "Was soll die Ärztin zu deinem zerkratzten Arm sagen? Wie das aussieht!"
Mir war das sehr peinlich, denn ich war mir keiner Schuld bewusst.
Frau Doktor kam, setzte sich, warf einen Blick auf meinen Arm und fragte:
"Sag mal, hattest du schon die Röteln?" Ich konnte mit, wie gesagt, so gut wie
jeder Kinderkrankheit dienen, aber die Röteln fehlten in meiner Sammlung.
In diesem Moment war ich nur erleichtert, dass es eine Erklärung für meine
Pocken gab und war stolz, meine Sammlung komplettiert zu haben.
Da sowieso Blut entnommen wurde, sollte ich auch gleich auf Röteln getestet werden.
Frohen Mutes ging ich nach Hause, wo meine ältere Schwester in der Küche saß.
"Weißt du, was ich habe? Die Röteln!" Meine Schwester blickte mich entsetzt an und
sagte: "Mensch, erschreck mich doch nicht so! Ich dachte schon, du hättest was
Schlimmes." Wir ahnten nicht, wie Recht sie hatte. Das waren nämlich gar keine
Röteln, sondern die ersten Vergiftungserscheinungen. Die kleinen Pünktchen
schienen ein Eigenleben zu führen, denn sie wanderten kreuz und quer über
meinen Körper; vom linken Arm zur Brust, von der Brust zum rechten Arm und
von dort wieder an eine andere Stelle.

Für mich war die Sache schon lange erledigt. Ich hatte meinen Auftritt gehabt
und es gab noch andere wichtige Dinge. Zum Beispiel sollte meine Schwester an
diesem Tag mit unseren Großeltern nach Tunesien fliegen und ich durfte sie zum
Flughafen begleiten. Das war alle Male aufregender als die Röteln.
Ich hätte eigentlich mitfliegen sollen, lehnte aber ab, mit Flugangst als Ausrede.
In Wahrheit wollte ich nicht mit den Großeltern in den Urlaub, da meine Oma eine
althergebrachte Vorstellung von Kindern hatte, der ich bei weitem nicht entsprach.
Ich war nicht das brave, kleine Mädchen, welches still saß, wo man es hinsetzte,
nie Widerworte gab, Kleidchen trug und güldene Zöpfchen. Ich war nicht unhöflich,
aber bevor ich den von meiner Oma verlangten Knicks zur Begrüßung machen
würde, grüßte ich lieber überhaupt nicht.

Also wurde nur das Gepäck meiner Schwester in das Auto geladen und ab ging es zu
den Großeltern. Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten war, dass meine Mutter
einen Anruf von unserer Ärztin erhalten hatte, gerade als wir zur Tür hinaus waren.
Meine Befunde waren eingetroffen und sehr besorgniserregend.
Ich hatte eine schwere Nierenentzündung — die roten Pöckchen waren Anzeichen einer
Blutvergiftung — und musste umgehend in das nächste Krankenhaus eingeliefert werden.
Meine Mutter informierte telefonisch meine Großmutter. Wir trafen bei Oma und Opa
ein und mein Vater wurde heimlich zum Telefon gelotst, von wo aus er zu Hause anrief.
Es grenzte an ein Wunder, dass ich von alledem nichts mitbekam, denn Diskretion
gehörte nicht gerade zu Omis Passionen. Meine Eltern entschieden, mir den schönen Tag
auf dem Flughafen zu gönnen und so verfrachteten wir die 100 Köfferchen und Täschchen
meiner Oma und Opas Koffer in den Wagen, drapierten uns dazwischen und düsten zum Flughafen.
Ich sehe noch, wie meine heiß geliebte, verhasste Schwester in einer Art Aufzug verschwand.
Ich quetschte ein paar Tränchen heraus ... nicht die letzten an diesem Tag.
Papa warf sich sogar in Unkosten und kaufte zwei Eintrittskarten für die Aussichtsterrasse
von der man alte Flugzeuge bestaunen konnte und die modernen Flieger starten und landen sah.
Der Heimweg war lang und langweilig, im Wagen war es heiß. Mein Vater sprach kein Wort.
Kaum hatte er den Wagen in unserer Straße geparkt, sauste ich ins Haus. Ich musste mal dringend
wohin und registrierte im Vorbeirauschen, dass meine Oma väterlicherseits, die bei uns im Haus
wohnte und deren Lebenspartner in der kleinen Diele standen, zusammen mit Mama. Zwischen ihnen
befand sich eine braune Tasche, die ich für Omis Einkaufstasche hielt. Wie sich später
herausstellte war es eine für mich gepackte Reisetasche.
Lachend und schwatzend kam ich aus der Toilette und stellte fest, dass keiner mit mir lachte.
Stattdessen sahen mich alle ernst und besorgt an. Mir schwante Böses.
Meine Mutter machte als erste den Mund auf "Du, Kirsten, du darfst dich jetzt nicht aufregen..."
- schon passiert - " ...die Ärztin hat angerufen. Du hast eine schwere Nierenentzündung
und wir müssen dich sofort ins Krankenhaus bringen.".

Und da waren sie wieder, die Tränen. Diesmal in geballter Ladung.

Ich landete also im Kinderkrankenhaus, in dem man mich drei Wochen festhielt. Nebenbei bemerkt,
in den Sommerferien! Mir wurde strenge Bettruhe verordnet, was bei den sommerlichen
Temperaturen eine Qual war. Des Weiteren sollte ich streng eiweißarm ernährt werden.
Bei einem Kind im Wachstum nicht ganz unproblematisch, denn der Körper braucht Eiweiß
um wachsen zu können. Jeden Morgen musste ich eine Urinprobe abgeben. Das war eine
meiner leichtesten Übungen, denn ich ging nachts nie zur Toilette und somit war meine
Blase morgens zum Bersten gefüllt. Das Problem war aber, dass man von mir erwartete,
dass ich erst baden ging! Mit übervoller Blase!!! Ich habe es gemeistert, wie vieles
andere, was noch kommen sollte. Lediglich das Zielen in das Laborröhrchen nach dem Bad
überforderte mich dann doch. Es wurden aber auch Untersuchungen gemacht, die nicht so
simpel waren, wie die allmorgendliche. Eines Tages führte man mich in einen Röntgenraum.
Ich trug dafür ein OP-Hemdchen. Man legte mich auf den Röntgentisch und schnallte mir
mit breiten Gurten eine Kunststoffplatte auf den Bauch. Unter die befestigte Platte
schob man eine Art Gummiballon, in dem ein Schlauch steckte, über den der Ballon mit
Luft gefüllt wurde. Mir wurde freundlicherweise mitgeteilt, dass man so meine Organ
aus der Mitte des Leibes verdrängen wollte, um einen Blick auf die dahinter liegenden
Nieren werfen zu können. Dazu war es nötig, dass mir eine Kanüle in die Armvene
gestochen wurde, über die ich ein Kontrastmittel gespritzt bekam.
Nach der Injektion kam ein hektisch wirkender Arzt angerannt, der mich fragte, ob ich
gegen Kontrastmittel allergisch wäre. Er handelte sicher nach dem Motto 'Besser spät als nie'.
Der Ball auf meinem Bauch war prall gefüllt und tat mir weh. Ich habe keinen Ton von mir
gegeben. Wozu auch? Wer sollte mir auch helfen? Ich war allein.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf dem harten Tisch lag - irgendwann kam eine Schwester,
brabbelte etwas von einem anderen Patienten und ich müsse mal eben woanders hin.
Ich stand auf, wie mir aufgetragen und schon lag ich am Boden.
Ich hatte das Kontrastmittel wohl doch nicht vertragen.

Ein anderer Morgen, eine andere Untersuchung. Ich wurde aus meinem Fünf-Bett-Zimmer geholt
und in einen winzigen, kammerähnlichen Raum gebracht, in dem viele weiß gekleidete Menschen
um einen Untersuchungstisch herumstanden. Wie immer war ich es, die sich auf diesen Tisch
legen sollte. Mein Unterhöschen wurde mir wortlos ausgezogen, ich sollte die Beine spreizen
und ein Arzt schob einen Katheter in meine Blase. Es tat so weh. Diesmal schwieg ich nicht -
ich weinte vor lauter Schmerzen. Der Arzt schob den Schlauch hinein, zog ihn wieder heraus
und schob ihn ein weiteres Mal in die Blase. Dann entschied er sich, doch mal einen dünneren,
meiner Harnröhre angepassten Katheter auszuprobieren. Es gelang beinahe spontan. Und ich lag
da, zwölf Jahre jung, allein, weinend, ohne Unterwäsche, und zig fremde Leute starrten gespannt
zwischen meine weit geöffneten Beine. Noch heute, jetzt, da ich diese Situation aufschreibe,
schießen mir Tränen in die Augen. Ich fühlte mich vergewaltigt!
Der Schlauch saß an seinem Platz, mir wurde mein Bademantel gereicht und ich schlich mit einem
zwischen meinen Beinen baumelnden Katheter und verheultem Gesicht über die Station, die Treppe
hinunter wieder einmal zu einem Röntgenraum. Vor der Tür begegnete mir ein Pfleger, der mich
anmaulte: "Also heulende Kinder wollen wir hier nicht haben!"
Na so ein Zufall, ich wollte auch nicht kommen!
Meiner Rolle bewusst, legte ich mich auf meinen Platz, den Röntgentisch.
Wieder lag ich mit gespreizten Beinen da. An den Katheter schloss man einen langen Schlauch an,
der zu einer Infusion führte. Mir wurde erklärt, dass sich in der Flasche ein - wer hätte es
gedacht — Kontrastmittel befinde, welches mir nun in die Blase geleitet würde.
Ich sollte so lange wie nur irgend möglich aushalten, denn die Flüssigkeit sollte von der
Blase in die Nieren gedrückt werden. Heute weiß ich, dass getestet wurde, ob ich Refluxnieren
habe, also der Urin zurück in die Nieren floss. Eine Flasche nach der anderen wurde an den
Galgen gehängt, die Flüssigkeit in meinen Unterleib geleitet. Eineinhalb Liter später merkte
ich an, dass so langsam meine Blase voll genug wäre. Auf dem Monitor, auf den auch ich
blicken konnte, was die Sache wenigstens interessant machte, sah man einen riesigen
schwarzen Fleck. Meine pralle Blase. Ihr Fassungsvermögen beeindruckte Arzt und Schwester.
Jahrelanges nächtliches Training und drei Wochen stationäres Trainingslager hatten meine
Blase zu Hochform auflaufen lassen. Um die Demütigung zu perfektionieren, wurde ich zum
Abschluss der Untersuchung aufgefordert, meine Blase vor aller Augen in eine Plastikflasche,
eine so genannte Ente, zu entleeren.

Ich war nicht das einzige Kind, an dem derartige Untersuchungen vorgenommen wurden.
Dennoch unterschied ich mich deutlich von den anderen.
Jeden Morgen, wenn wieder Untersuchungen anstanden, versammelten sich die Kinder auf dem
Balkon der Station und warteten auf ihre Mamas. Mich fand man dort nie, denn ich
wusste, dass meine Mama nicht kommen würde. Ich kann mich nicht erinnern, meine Mutter
je gefragt zu haben, warum sie nicht kommt. Ich habe es als gegeben hingenommen, jedoch
nicht ohne traurig zu sein. Im weiteren Verlauf meines Lebens fehlte meine Mutter immer,
wenn sie für mich wichtig gewesen wäre, was mich irgendwann sehr wütend, beinahe verbittert
machte. Heute denke ich zu wissen, warum sie nie kam: Sie konnte nicht.
Irgendwann lernt man, dass auch Eltern nur Menschen sind - mit Stärken und Schwächen.
Die Schwäche meiner Mutter war, nicht ertragen zu können, wenn ich litt. Sie entschied sich
daher wohl unbewusst, mich allein zu lassen. Mich hat es stark gemacht, alles allein
durchstehen zu müssen, aber das schmerzliche Gefühl des Verlassenseins trage ich noch
heute in mir. Zumindest kam sie regelmäßig zu den Besuchsnachmittagen. Einmal war auch
meine Oma väterlicherseits dabei. Sie hatte Kaffee mitgebracht und ich bekam ein Wassereis.
Milcheis hätte zu viel Eiweiß enthalten. Mama wurde indessen zum Stationsarzt gerufen,
um ihr den Stand der Untersuchungen mitzuteilen. Ich sehe noch heute ihr Gesicht, als sie
sich wieder zu uns auf den Balkon gesellte. Sie war leichenblass, ihr ganzer Körper zitterte.
Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und Omi drückte ihr einen Becher Kaffee in die Hand.
Meine Mutter war nicht in der Lage den Becher ruhig zu halten, sie verschlabberte alles.
Erschrocken nahm ich ihr den Kaffee aus der Hand und verbrühte mich leicht dabei.
Selbstverständlich wollten wir wissen, was sie so sehr aus der Fassung gebracht hatte,
doch sie sagte lediglich, das Wetter ginge ihr auf den Kreislauf, es würde bald besser.
Ich gab mich damit zufrieden.

Jahre später erzählte sie mir, was wirklich der Grund ihrer Aufregung gewesen war.
Der Stationsarzt hatte ihr die Befunde der Tests erläutert und sagte sinngemäß:
"Wir können Ihrer Tochter nicht helfen. Die Nieren sind geschrumpft, eine arbeitet
nicht mehr und die andere wird ihre nur mäßige Tätigkeit einstellen, was sich aber
noch über Jahre hinziehen kann. Im Notfall gibt es ja noch die Dialyse."
Meine Mutter dachte sicher, ich müsse sterben.

Nach drei Wochen wurde ich aus der Klinik entlassen, mit der Auflage, auch weiter
streng eiweißarm zu leben und mein Blut regelmäßig kontrollieren zu lassen.
Diese Kontrolluntersuchungen fanden bei der Hausärztin statt, der ich wohl sehr
viel zu verdanken habe, denn sie hörte den Bericht meiner Mutter und war mit der
Aussage des Arztes ganz und gar nicht einverstanden. Sie überwies mich, unter
Absprach mit meinen Eltern, in eine Uni-Klinik. Dort stellten mich Mama und Papa
kurze Zeit später in der Ambulanz der Kinderklinik vor.

Zu allererst nahm man mir wieder einmal Blut ab. Ich wurde gemessen, gewogen und
es stellte sich heraus, dass ich mit meinem Wachstum sechs Monate zurück lag.
Der Ambulanzarzt, der auch Oberarzt der hauseigenen Kinderdialyse war, fiel aus
allen Wolken als er erfuhr, dass ich bereits seit sechs Monaten eine strenge
Eiweißdiät hielt. In dieser Zeit war ich keinen Zentimeter gewachsen. Wen wundert es?
Die Diät wurde umgehend abgebrochen, da sie zu allem Überfluss keinen Sinn gemacht
hatte und ich bekam den Auftrag, noch am gleichen Abend ein großes Schnitzel zu essen,
was mir weiß Gott sehr leicht fiel. Während der Diät gab es viele Abende, an denen ich
nur eine Scheibe Graubrot mit Senf bekam, da ich meine Ration Eiweiß bereits vertilgt hatte.
Im Erwachsenenalter erzählte mir meine Mutter mal, dass es zwischen ihr und meinem Vater
zu einem heftigen Streit gekommen war, denn er aß ein dick mit Schinken belegtes Brot,
während ich an meiner Senfschnitte mümmelte. Er war tatsächlich nie sonderlich einfühlsam.
Das Lustige an der Geschichte ist, dass ich mich nicht erinnern kann, mit sehnsüchtigem
Blick auf das Brot meines Vaters gestarrt und verzweifelt gegen die Speichelflut
angeschluckt zu haben. Ich war nie missgünstig, habe immer allen alles gegönnt.
Ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen, dass mein Vater warten könnte, bis ich im
Bett verschwunden bin. Für mich war das alles selbstverständlich und das sage ich nicht,
weil ich mich beweihräuchern will, sondern weil es wirklich so war. Aber auch ich hatte
eine Phase in meinem Leben, in der ich sehr böse Gedanken hegte, für die ich mich noch
heute schäme. Aber dazu komme ich viel später.

Fortan fuhren wir alle vier Wochen in die Uni-Klinik. Auf dem Weg dahin, der sehr lang
war, hatte ich mir einige markante Punkte gemerkt, die mir zeigten, wie nahe wir der
Klinik waren. Mit jedem dieser Punkte stieg meine Angst. Ich weiß nicht wie oft wir
schon dort gewesen waren, als ich eines Tages auf der Untersuchungsliege saß und der
Doktor völlig unvermittelt zu mir sagte: "So, du weißt ja, dass du irgendwann an die
Dialyse musst..." Ich fiel fast um. — Nichts habe ich gewusst! Woher denn auch?
Meine Eltern rutschten betreten auf ihren Stühlen herum. Der Arzt war ebenso geschockt
wie ich: "Haben Sie ihr das etwa nicht gesagt?" Er hatte meine Eltern damit beauftragt,
mir diese Tatsache schonend beizubringen. Er war der Meinung, Eltern kennen ihre Kinder
am besten und wissen, wie sie ihnen eine solche Hiobsbotschaft am einfühlsamsten nahe
bringen konnten. - Leider kannte er nicht meine Eltern. - Sie waren schlicht zu feige,
mir zu erzählen, dass ich dialysepflichtig werden würde und ließen mich stattdessen lieber
ins offene Messer laufen. Ich gestehe, dass ich es ihnen noch heute ein wenig nachtrage.
Der Schock war unglaublich!

Sofort hatte ich Visionen von sterilen Räumen, in denen alle Wände mit Geräten bepflastert
sind. So, wie man es in Filmen von Intensivstationen kennt. Ich brach regelrecht zusammen.
Ich weinte und weinte, konnte mich gar nicht mehr beruhigen. Der Arzt, nennen wir ihn
"Doktor Pieper", war zu Recht stocksauer auf meine Eltern, denn gerade war das passiert,
was er unter allen Umständen vermeiden wollte. Mühsam beruhigte ich mich. Um mir nächtliche
Albträume zu ersparen, nahm mich Doktor Pieper noch am gleichen Tag mit auf die Dialysestation.
Was ich dort sah, entsprach glücklicherweise nicht meiner Horrorvorstellung. Ich betrat einen
Raum, in dem vier typische Krankenhausbetten standen. In jedem dieser Betten lag ein Kind.
Ich wurde zu zwei Jungen geführt, die in nebeneinander stehenden Betten saßen und schwatzten.
Doktor Pieper stellte mich ihnen vor und bat sie, mir etwas über die Dialyse zu erzählen.
Der Junge im rechten Bett fragte: "Was soll ich denn erzählen?" "Sag doch, wie blöd du bist!",
rief der andere Junge und beide lachten. Jeweils zu ihrer linken Seite, stand die Dialysemaschine.
Ihre Größe war in etwa mit einer Tanksäule vergleichbar. An der Maschine hingen mit Blut gefüllte
Schläuche, die zum Arm des Patienten führten, dessen Blut sie reinigten. Das war mein erster
Eindruck, den ich in der Kürze meines Besuches gewinnen konnte.

Wieder vor der Tür fragten mich meine Eltern, was ich davon halten würde.
Ich wusste, was sie hören wollten und antwortete das, was sie hören wollten:
"Die sind ja ganz lustig da."
Ich hatte meine Aufgabe erfüllt; meine Eltern waren erleichtert. - Ich aber nicht.
Die komplette Heimfahrt über konnte ich nicht aufhören zu heulen.
Zu Hause angekommen, änderte sich mein Zustand nicht...